Mittwoch, 24. Juli 2013

Über 53 Brücken musst du gehn

Montag, 21. bis Mittwoch, 24. Juli. Zum ersten Aufwachen in der Nordmetropole diesmal ein unvergleichlich schrilleres Hafenorchester als sonst. Von einer nahen Baustelle dringt der Schrei einer Kreissäge ins Ohr, und in unmittelbarer Nähe steigern sich das scharfe Pfeifen des Windes, kreischende Bugstrahlruder und das erratische Hin und Her eines von unschuldigen Kinderhänden ferngesteuerten Spielzeugbootes zu frühmorgendlicher Ohrenfolter. Wir satteln die Räder und machen Besorgungen beim Schiffsausrüster. Schellen in verschiedenen Größen, Schamfilschutz für Leinen, eine Reservepositionslampe, Kleber fürs Schlauchboot usw. Ansonsten: nichts muss, alles kann.

Dass wir bei Einfahrt gestern als erstes einem auf Wikinger getrimmten Touristenkahn begegneten, bestätigt, dass jede Reise immer auch eine Zeitreise ist. Vieles von dem, was unsere Vorfahren zum Leben und Überleben betrieben, machen wir heute nur so zum Spaß, uns segelnd von einem Ort zum anderen bewegen oder bewegen lassen z.B.

In diesem Tunnel klingt "De Noche" sehr gut
Die Innenstadt überfordert das sinnliche Auffassungsvermögen. In manchen Gegenden eine  Ansammlung von Geschäften voller Schrott, Animateure versuchen, Passanten in Restaurants hinein zu locken. Menschliche Werbeplakate, ein Trommler ohne Rythmusgefühl, eine als Tod verkleidete Gestalt, ein am Boden kauernder Blockflötenspieler, ein Mann mit einer Bettelschale, der zwei völlig verkrüppelte Füße in orthopädischen Schuhen hinter sich her zieht, Menschen, die Mülleimer nach Brauchbarem untersuchen, andere, die blasiert in Korbstühlen herumsitzen, an Getränken nippeln und, während sie sich miteinander "unterhalten", ihre jeweiligen Kommunikationsgeräte befummeln, Mails lesen oder SMS absetzen. Kultureller Irrsinn. In Vorbeifahrt ein Werbeplakat:"Who needs fiction!" Stimmt. Hier und heute ist Fiktion.

Wir radeln bergauf, bergab, (Stockholm besteht aus 14 Inseln, die mit 53 Brücken verbunden sind), landen auf immer neuen Ebenen, an Rückseiten von Häusern und ganzen Gegenden, an Orten und Nicht-Orten, bevölkert von Typen aller Haut- und Haarfarben, gefärbt oder natürlich, alle im Transit von Irgendwo nach Irgendwo, die Frauen und Mädchen auf Stöckeln und in Hotpants. Lieber so viel wie möglich sonnen-(bank-)gebräunte Haut zeigen und frieren, als wettergemäß gekleidet und damit vermeintlich unsichtbar zu sein. Es scheint, als hätte die sexuelle Revolution in unseren Breitengraden heimatlose und desorientierte Kinder hervorgebracht, denn in Hamburg, Berlin, in Tokio, New York usw. das gleiche Bild. Ein flüchtiger, aber wiederkehrender  Gedanke. Wir widmen uns den anstehenden Aufgaben: Schlauchboot reparieren (der Skipper), Scharniere und Druckknöpfe justieren (Logbuchführerin).

Der Wind soll in den nächsten Tagen nördlich bleiben und wieder auffrischen (bis 7 Bft). Wir liegen geschützt im Windschatten des Vasa-Museums, das in der Dämmerung ein bisschen so aussieht wie Dagobert Ducks Geldspeicher.

Mittwoch. Wechseln noch einmal den Liegeplatz von der zweiten in die erste Reihe, als der Nachbar sich auf den Weg nach Estland macht und wir keine Luvleine mehr haben. Nun haben wir freien Blick auf eine betrunkene Männergruppe und ein vorbeistreunendes Freundinnenpaar, die sich gegenseitig wie vom Suchtstoff ferngesteuert in die Arme fallen, die Frauen auf der Pier, die Männer auf dem Boot, das eigentlich für ihren Zustand einen zu wackeligen Untergrund bietet. Brothers and sisters in Arms.

Und sonst:
- Im Vorbeigehn wahrgenommen und besser als halluzinogene Substanzen: http://youtu.be/MqVcHTEmrlc
- besoffen von der Parallelverschiebung der Schwimmstege in den Knicks, bei Schwell
- wir kriegen jeden Tag zu jeder Mahlzeit our favorite dish: fish!
- und auf alles kommt: frische Zwiebel (z.B. auf den Kaviar aus Kalix, hier Nationalgericht)
- gustatorisch das Beste seit langem: von des Skippers rauhen Händen frisch zubereiteter Kartoffelsalat, mit geraspelter roher Rote Beete, geraspeltem Ingwer, Tomaten, Gurken, Möhren, Essig/Öl/ Salz/Pfeffer-Sauce
- Logbuchführerin malade, ein Tag Totalausfall
- Welche von den 24.000 Inseln und Inselchen des Skärengartens solln wir uns als nächstes vornehmen?!





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